Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
„Es ist das Ziel der vorliegenden Flugschrift, zum Verstehen des intellektuellen und affektiven „Betriebssystems“ beizutragen, dass die Linke angesichts des Ukraine-Krieges, des Kalten Krieges 2.0 und des neuen Nahost-Kriegs antreibt. Peter Wahls Kritik richtet sich vorallem um → die Ausblendung von Geopolitik, d.h. von machtpolitischen Strukturen und Dynamiken imninternationalen System wie z.B. das Agieren großer Player → das Fehlen einer eigenständigen Analyse der Eskalationsgeschichte eines Konflikts → den Überschuss an affektgesteuertem, emotionalen und moralbasiertem Umgang mit Kriegen → und viel Unkenntnis der inneren Verhältnisse der kriegsbeteiligten Länder, was zu einer Abhängigkeit von staatstragenden Medien und interessensgeleiteter Expertise aus dem Mainstream geführt hat.
„Das ist gerade beim Thema Krieg und Frieden fatal, da Deutschland inzwischen mit massivem Engagement de facto Kriegspartei ist. Von daher ist es dringend notwendig wieder intellektuelle Gegenmacht gegen Bellizismus (sprich „Kriegsverherrlichung“) und Krieg aufzubauen!!!
Im 2. Kapitel wirft Peter Wahl einen Blick zurück in die Geschichte und beginnt mit der Aussage: „Dass der Krieg die Linke spaltet, ist kein neues Phänomen“. Er verweist auf den Internationalen Sozialistenkongress 1907 in Stuttgart, auf dem -gemäß der im Kommunistischen Manifest verankerten Parole „Proletarier aller Länder vereinigt euch“- festgehalten wurde, dass Arbeiter:innen kein Vaterland haben und damit auch keines verteidigen müssen. Damals war man sich sicher durch internationale Zusammenschlüsse der Arbeiter:innen Kriege verhindern oder sofort beenden zu können. Doch nur 7 Jahre später sah die Welt völlig anders aus. Trotz Rosa Luxemburgs vielbeachteter Schrift: „ Die Akkumulation des Kapitals“ von 1913, die die Kriegsgefahr aus der kapitalisitschen Entwicklung ableitete, taumelte die Linke 1914 in ihr erstes großes Trauma, mit Beginn des 1. Weltkrieges: „Wie sie lernten die Bombe zu lieben“ Noch wenige Tage bevor der erste Schuss im Weltkrieg fiel, hatte die SPD in Berlin zu Demonstrationen aufgerufen, an denen trotz Verbot 100.000e Menschen teilnahmen – Was mag in einem aufrechten Internationalisten vorgegangen sein, als er erleben musste, dass mit Ausnahme von Karl Liebknecht die gesamte Reichtstagsfraktion der SPD den Kriegskrediten zustimmte, um auf den Kurs der Vaterlandsverteidigung einzuschwenken???
Peter Wahls Fazit: Partei-Strukturen sind unter Konformitätsdruck des politischen Systems wesentlich anfälliger als ihre Basis! Augenscheinlich auch heute!
Aber auch Intellektuelle neigen oft zu Kriegstaumel, damals wie heute. Damals z.B. Sigmund Freunds Begeisterung („Meine ganze Libido gehört Österreich-Ungarn“) oder das berüchtigte „Manifest an die Kulturwelt“ von 1914, das von 93 namhaften Natur- und Geisteswissenschaftler, Historikern und Künstlern (darunter einige Nobelpreisträger) unterzeichnet wurde, z.B. von Max Planck, Gerhard Hauptmann, Wilhelm Röntgen, Max Liebermann, ….
Peter Wahl weist explizit darauf hin, dass Nationalismus / Patriotismus und ähnlich identitäre Gemeinschaftskonstruktionen (wie heute z.B. die EU oder der sog. Wertewesten) in Kriegssituationen schnell überwältigend stark werden. Die regelmäßige Unterschätzung dieser Sogkraft durch sich selbst als anti-nationalistisch haltende Linke sei ein fataler Fehler! Aber Fakt ist auch: Es braucht zur Durchsetzung von Bellizismus immer Massenmedien und Multiplikatoren, die ein sog. ‘Wahrheitssystem’ installieren.
Und was bedeutet das für uns? Es reicht nicht, die Welt verändern zu wollen, man muss sie auch richtig analysieren, d.h. ein Verständnis davon erarbeiten, wie Weltpolitik heute funktioniert. Geopolitik bedeutet von daher die sachliche Analyse bestehender Machtverhältnisse. Wenn Linke wieder Eingriffsfähigkeiten gewinnen wollen, müssen sie sich deutlich intensiver mit Krieg und Frieden beschäftigen und wieder mehr Sachverstand zu entwickeln!
Schon Rosa Luxemburg konstatierte : „Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat“ Zur Zeit ist für die herrschende Meinung allein das Thematisieren des internationalen Kontextes z.B. des Ukraine-Krieges ein No Go. Das ist in ihrem Sinne logisch! Für die Linke allerdings ist das Ausblenden des geopolitischen Kontextes eine intellektuelle Bankrott-Erklärung und verhöhnt den Anspruch linken Denkens und seiner Verwurzelung in Aufklärung und kritischer Gesellschaftstheorie. Gerade weil die Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten in der globalisierten Welt eine eigene Systemlogik angenommen haben, braucht es ein gemeinsames linkes Verständnis davon. Laut Peter Wahl stellen sich die Grundzüge der Weltordnung im 21.Jahrhundert wie folgt dar:
- Der Nationalstaat ist nach wie vor der zentrale Akteur im internationalen System, als effizienteste Form der Vergesellschaftung. Demgegenüber bleiben transnationale Konzerne ihren Herkunftsländern untergeordnet
- Kein Staat existiert alleine, sondern im internationalen System nur in Wechselbeziehungen zu anderen Staaten
- Es gibt keinen Weltstaat mit einer obersten Autorität
- Völkerrechtlich haben zwar alle den gleichen Status, bleiben aber trotzdem hierarchisch gegliedert. Je weiter unten man sich in der Hierarchie befindet, desto geringere Handlungsspielräume gibt es)
- Die Position in der Hierarchie hängt von den Machtressourcen eines Landes ab, also → der militärischen Macht → dem ökonomischen Potenzial → dem Stand der (Zukunfts-)Technologien → dem politischen Einfluss in internationalen Organisationen (UNO, IWF, NATO, BRICS, G7…) → der Softpower ( Einfluss auf weltweite kulturelle Kommunikationssysteme…)(siehe z.B. die Big Five der USA: Apple, Amazon, Facebook, Google, Microsoft)
Ja, wir leben in einer „Zeitenwende“ Aber nicht in einer, wie sie unser Bundeskanzler definiert, sondern in einem tiefgreifenden Übergang von einer unipolaren zu einer multipolaren Weltordnung. Darin fungieren „Stellvertreterkriege“ als Instrument in Großmacht-Rivalitäten. Dieser geopolitischer Umbruch bedeutet eine „Entwestlichung“ der Welt und ein Ende der 500-jährigen euro-atlantischen Dominanz. Natürlich ist das sehr gefährlich, da etablierte Mächte ihren Status Quo erhalten, und aufsteigende Mächte ihn verändern wollen! Das heutige unipolare System wird noch dominiert von den USA: – Militärisch: sie verfügen über das weltweit stärkste Militär mit 120 größeren Stützpunkten auf allen Kontinenten (ohne NATO) – Ökonomisch: Dollar als Weltwährung, globale Präsenz im Finanzsektor und in der digitalen Industrie, SWIFT und Kreditkartensystem (American Express, Visa, Mastercard) – Technologie-Führerschaft in vielen Bereichen – Politische Vernetzung durch den global größten diplomatischen Apparat mit hohem Einfluss auf multilaterale Institutionen, z.B. Veto-Recht in UNO oder rechtliche Sperrminorität im IWF – Softpower….
Peter Wahl beschreibt hinsichtlich dieser Punkte neben den USA, auch China, Russland, die EU und den globalen Süden. Aber er insistiert darauf, dass Linke sich vorallem über die Rolle der USA bewusst werden sollten, denn „Wer Number one ist, über den muss auch entsprechend seiner Bedeutung gesprochen werden !“ Ein Beispiel:
Lange Zeit existierte zwischen dem Westen und dem Osten ein strategisches Gleichgewicht, mithilfe diverser Abkommen ( z.b. gegenseitige Rüstungskontrollen für die gemeinsame und ungeteilte Sicherheit). Dieses Gleichgewicht wurde schon lange vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine empfindlich gestört: 1999 Keine Unterzeichnung des bereits von Russland, Kasachstan und Belaruss ratifiziertenA (adaptierten) -KSE Vertrages durch die NATO-Staaten 2002 Kündigung des ABM-Vertrages durch die USA (Antiballisches Raketen dienen der Abwehr von Langstreckenraketen oder Marschflugkörpern) 2019 Kündigung des INF-Vertrages durch die USA (Verbot der Stationierung von Langstreckenraketen und Marschflugzeugen) 2020 Kündigung des Open-Sky-Abkommens durch die USA, welches regelmäßige Inspektionsflüge über gegnerisches Territorium erlaubte (Auf die Kündigung dieser Verträge verwies Putin übrigens in seiner Rede vom 22.2.22./S. 33) Gleichzeitig traten die USA aus der UNESCO aus. Dann unter Trump Austritt aus der WHO (Rückkehr unter Biden), sowie der Rückzug aus dem iranischen Nuklearprogramm mit dem Erlass von völkerrechtswidrige Sanktionen gegen Firmen und Banken, die weiter mit dem Iran geschäftliche Beziehungen pflegten….
Ein weiterer wichtiger Punkt in Peter Wahls Streitschrift beschreibt das Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmungsrecht, Souveränität und Unverletzlichkeit der Grenzen als schwierige völkerrechtliche und politische Fragen. Artikel 2 der UN-Charta, der das Selbstbestimmungsrecht der Völker regelt, war 1945 v.a. auf die Befreiungskämpfe damaliger Kolonien fokussiert. Heute erheben diverse Minderheiten einen Anspruch auf Autonomie, so z.B. Palästina, Kurdistan, Taiwan, West-Sahara, Nord-Zypern, Kosovo. Oder die post-sowjetischen Staaten: Süd-Ossetien, Abchasien, Transnistrien. In West-Europa : Katalonien, Schottland, Flandern…. Ein grundlegendes Problem ist, dass in der heutigen Weltordnung mit zweierlei Maß gemessen wird, so ist z.B. laut Rechtsanspruch das, was Kiew im Donbass macht, völkerrechtlich legal. Würde allerdings China dasselbe in Taiwan tun, gäbe es Krieg. Auch die Anerkennung der Annexion der West-Sahara durch die USA 2020, verstieß gegen die völkerrechtliche Beschlusslage der UNO….usw.
Die Ungleichheit der Machtpositionen (Pyramide!) in der UNO führt zur Gründung neuer Bündnisse. Im Gegensatz zur Bewegung der „Blockfreien“ im kalten Krieg, die nur sehr geringe Eingriffsmöglichkeiten hatten, stellen sich heute Selbstorganisationsprojekte wie BRICS oder SCO völlig anders in ihren Machtressourchen dar: Gemessen in Kaufkraftparitäten ist das BIP der 5 BRICS- Kernstaaten schon größer als das der G7. Und der Anteil des Westens an der Weltbevölkerung (inclusive Japans) liegt heute bei nur noch 15% (davon Europa 5%) – im Gegensatz zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Europa ein Viertel der Weltbevölkerung stellte. Die Attraktivität solcher Bündnisse, zeigte sich auch beim Brics-Gipfel in Südafrika, wo zum einen die Aufnahme von Ägypten, Äthiopien, Argentinien, Iran, Saudi-Arabien und VAE beschlossen wurde, und zum anderen noch 40 weitere Länder Interesse an einer Aufnahme signalisiert haben. Hätte im Ggs. dazu der Westen bei dem G20 Gipfel 2023 in Indien auf seine Position zur Ukraine bestanden, wäre dies das Aus gewesen für die sog. Selbsternannte Weltregierung als Gremium (Modi hatte Video-Auftritt Selenskis genauso abgelehnt wie die explizite Verurteilung Russlands – anders als im Vorjahr in Bali). Die BRICS-Mitglieder haben trotz ihrer äußerst heterogenen Vielfalt und internen Rivalitäten (z.B. zw. Saudi-Arabien und Iran oder zw. China und Indien, usw. ) ein gemeinsames umfassendes Interesse an einer anti-hegemonialen Weltordnung und befürworten ein multipolares internationales System. Zitat aus der Abschlusserklärung des BRIC-Gipfels im russischen Jekaterinenburg: „Wir wollen eine demokratischere und gerechtere multipolare Welt auf Grundlage des Völkerrechts, der Gleichheit, des gegenseitigen Respekts, der Zusammenarbeit, des gemeinsamen Handelns und kollektiver Entscheidungen aller Staaten.“
Laut Peter Wahl ist „diese Transformation ein Schritt zur Demokratisierung des internationalen Systems und ein Schritt zur Selbstermächtigung von Akteuren, die bisher keine Stimme hatten. Aber wohlbemerkt nur ein Schritt. Wenn Multipolarität nur eine Übergangsphase wäre, um einen Hegemon durch einen anderen zu ersetzen, geriete die Welt vom Regen in die Traufe. Immerhin wurde beim jüngsten BRICS-Gipfel erklärt, die UN-Charta ins Zentrum der neuen Weltordnung zu stellen. Wenn dies in der Praxis so bleibt, wäre das ein zivilisatorischer Fortschritt in der Menschheitsgeschichte. Und der 2. Versuch, denn auch bei der Gründung der UNO nach dem 2.WK, war dies die Hoffnung. Es wäre Aufgabe von Linken sich dazu eine eingriffsfähige Position zu erarbeiten.
Im abschließenden Kapitel weist Peter Wahl explizit auf die klimapolitischen Folgen hin: (Zitat)..”Die Konfrontation zieht Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in ihren Bann und absorbiert so enorme Ressourcen die für die Lösung der vielen Probleme benötigt werden. Krieg und Rüstungswettlauf verschlingen gigantische Summen, sowie Rohstoffe, und haben eine dramatischen Umweltverbrauch. Der ökologische Fußabdruck allein des US-Militärs entspricht dem einer mittleren Volkswirtschaft, wie Dänemark oder Marokko. Zwar wird die Abwendung von Konfrontation und Bellizismus nicht all die anderen Probleme automatisch lösen. Sie ist aber Voraussetzung dafür, dass sie lösbar werden. Insofern muss der Kampf gegen den Klimawandel, müssen Sozialprotest und Demokratiebewegung immer auch Teil der Friedensbewegung sein, wenn sie erfolgreich sein wollen.“
Von daher hat die Parole nichts von ihrer Gültigkeit verloren:
Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!