Rede zum 8. Mai 2022

Michaela Matschinski

Wir stehen heute wieder hier an diesem für Ravensburg historischen Platz, im Volksmund bekannt als das „Rote Haus“. Ihr seht die roten Ziegelstein-Mauer als erhalten gebliebene Außenbefestigung. Es war das Gemeindegefängnis, in dem auch während der NS-Diktatur Menschen inhaftiert waren, sowohl Opfer der nazistischen Rassentheorie, wie auch Gegner*innen der menschenverachtenden NS-Ideologie. Ca. 35 politische Häftlinge dokumentiert, ohne Angaben zur Vollständigkeit. Abzüglich der 11 Gemeinderäte, an die im Rathaus mit einer Gedenktafel erinnert wird, gibt es also über 20 vergessene Widerständler*innen. Wir denken 77 Jahre nach Kriegsende wäre es dringend an der Zeit, sie für ihre aufrechte Haltung, ihr antifaschistisches Bewusstsein und ihren Mut zu ehren und für sie ein dauerhaftes Mahnmal hier an dieser Stelle zu errichten.

Wie wichtig Orte des Erinnerns und des Gedenkens sind, zeigt sich auch in der neuen Studie des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Seit 2018 hat das IKG, gefördert durch die Stiftung EVZ (Erinnerung, Verantwortung, Zukunft), 4 empirische Studien zur gesellschaftlichen Erinnerung und Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus durchgeführt. In der letzten Befragung 2021 zeigt sich, dass in der Erinnerungskultur nicht alle Personen und Bevölkerungsgruppen gleichermaßen angesprochen und erreicht werden. Bildungs- und soziale Ungleichheiten in unserer Gesellschaft scheinen sich auch in der Auseinandersetzung mit der Geschichte wiederzuspiegeln. Lokale Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit dem NS werden dort, wo sie bestehen und bekannt sind, von vielen genutzt. Zugleich zeigt sich, dass solche lokalen Zugänge insbesondere in ländlichen Regionen seltener vorhanden sind. Ein weiterer Punkt in der vorliegenden Studie zeigt, dass Befragte im Durchschnitt nur 2-3 Opfergruppen des Nationalsozialismus benennen können. Die meisten (82 %) kennen die Gruppe der Jüd*innen, nicht mal die Hälfte (44 %) kennt die Gruppe der Sinti*zze und/oder Rom*nja. Weniger als ein Drittel der Befragten (ca 28 %) benennen Homosexuelle und politisch Verfolgte (Sozialdemokraten / Kommunisten) . Und nicht mal jede Vierte denkt an Kranke oder Menschen mit Behinderungen als eine Gruppe, die vom NS-Regime verfolgt und ermordet wurde. Und -ganz krass- jeder 10. Befragte kann keine Angaben zu Opfergruppen machen! Allein diese beiden Punkte zeigen wie wichtig es in Ravensburg wäre, zusätzlich zu den bereits bestehenden Mahnmalen u.a. für die deportierten Sinti*zze an der Jodokkirche, der Grauen Busse, der Stolpersteine, der Gedenktafel im Rathaus,… noch ein weiteres Mahnmal für den dokumentierten politischen Widerstand gegen den Nazifaschismus zu errichten.

Am letztjährigen 8.Mai habe ich darüber gesprochen, wie in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte in öffentlichen Debatten äußerst kontrovers über die Verantwortung für und die Lehren aus dem deutschem Faschismus gesellschaftlich gerungen wurde. Ich begann bei Adenauer, der noch in seiner Antrittsrede 1949 forderte (Zitat): „ Vergangenes vergangen sein zu lassen“ ( da die De-Nazifizierung schon genug Schaen angerichtet hätte), verwies auf den Eichmann-Prozess 1961 und die Ausschwitzprozesse 63, die Auseinandersetzungen in der Studentenbewegung in den 60-/70-igern mit Fritz Fischer, der Bielefelder Schule,etc., der Kniefall Willy Brandts 1970 am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos, der 1978 erzwungene Rücktritt des badenwürttembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbingers wegen seiner Todesurteile als NS-Marinerichter (Bemerkenswert seine damalige Rechtfertigung 23 Jahre nach Kriegsende:“Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“),  ebenso 1978: die Ausstrahlung der 4-teiligen Fernsehserie HOLOCAUST, und die Auseinandersetzungen in den 90-igern um die Wehrmachtsausstellung, oder die Goldhagen-Debatte 1996- um nur einige zu nennen…. Und ich weise nochmals auf den Meilenstein in der offiziellen deutschen Erinnerungskultur hin: die Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes am 8. Mai 1985.  Dieser Tag, so erklärte der damalige Bundespräsident, sei ein “Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft”. Gleichzeitig betonte Weizsäcker auch, dass die Verantwortung die die deutsche Bevölkerung trage für das, was im Dritten Reich und im Holocaust geschehen war, nicht relativiert werden könne durch das im Krieg erlebte Leid. Zitat: “Wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für die Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte”. Damit schloss sich Weizsäcker als erstes deutsches Staatsoberhaupt der Sichtweise der anderen europäischen Staaten an – und fand damit im Ausland große Beachtung und Anerkennung.

Heute gehört die fortlaufende Erforschung und Einordnung des NS zum staatlichen Selbstverständnis. Trotzdem sind die Studienergebnisse zum Teil erschreckend. In der letztjährigen  Studie wurden die Teilnehmer*innen weitergehend zu ihrer Einschätzung der Rolle und der Einstellungen der deutschen Bevölkerung in der NS-Zeit befragt. Die Befragten schätzen im Durchschnitt, dass nur etwas mehr als die Hälfte aller Deutschen (54 %) von den systematischen Morden des NS-Regimes wusste, dass also im Umkehrschluss 46 % der Deutschen diese Verbrechen nicht bewusst gewesen wären. Die Ansicht, dass der Großteil der Deutschen das nationalsozialistische Regime bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs aktiv unterstützt hat, teilen weniger als die Hälfte (42,7 % ) aller Befragten. Ein Viertel aller Befragten (25%) haben Verständnis dafür, wenn Deutsche in der NS-Zeit (Zitat)„nichts von den Verbrechen des Nazi-Regimes wissen wollten“. Etwa jeder* fünfte Befragte (20%) teilt die Ansicht, dass die deutsche Bevölkerung keine Mitverantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes trug. Fast ebenso viele (18%) sind der Meinung, dass die deutsche Bevölkerung während der NS-Zeit (Zitat) „genauso sehr gelitten hat wie die Gruppen, die durch das NS-Regime verfolgt wurden“.

Die Prof. Dr. Christina Morina – Universität Bielefeld sagt dazu: „Eine große Mehrheit der damaligen Bevölkerung hat das NS-Regime bis in die totale Niederlage hinein unterstützt – und auch über die Zäsur von 1945 hinaus an nicht wenigen nationalsozialistischen Glaubenssätzen festgehalten. Die Studienergebnisse zeigen, dass ein überraschend großer Teil der heutigen Bevölkerung nicht ausreichend über das Ausmaß dieser Unterstützung informiert ist und zugleich dazu neigt, die Leiden der deutschen Bevölkerung mit denen der Opfer der NS-Herrschaft gleichzusetzen.“ Das bedeutet, die Aufklärungsarbeit über den deutschen Faschismus, den Menschheitsverbrechen des Nazi-Terror, den Völkermord und Vernichtungskrieg ist unumgänglich. Und die Weiterentwickung einer „deutschen Erinnerungskultur“ ist  77 Jahre nach der erzwungenen Kapitulation der deutschen Wehrmacht dringend erforderlich. Ein wichtiger Baustein darin wäre den 8.Mai zum deutschen Feiertag zu erklären, wie es die  Ausschwitz-Überlebende Esther Bejerano noch vor ihrem Tod in einer Petition an den dt. Bundestag forderte. In vielen europäischen Ländern wird der 8. Mai als Tag der Befreiung vom national-sozialistischen Joch feierlich begangen. In Deutschland erlebten vorallem die überlebenden Verfolgten und Widerstandskämpfer*innen diesen Tag als Befreiung. Wir reden hier von Millionen Menschen, die befreit wurden aus Zuchthäusern und Lagern, von der Zwangsarbeit und den Todesmärschen. Trotz aller Aufarbeitung blieb seit Kriegsende die Sicht auf den 8. Mai wesentlich von der Sicht der Nazis und der Mitläufer*innen als Tag der Kapitulation und der Niederlage geprägt. Im Aufruf für die o.g. Petition schreibt Florian Gutsche, Bundesvorsitzender VVN-BdA: „Den 8. Mai zum gesetzlichen Feiertag zu machen, wäre ein symbolischer Perspektivenwechsel: von der Sicht der „Volksgemeinschaft“ hin zur Sicht der Befreiten, der Verfolgten, des Widerstands. Das wäre ein starkes Zeichen gegen Geschichtsrevisionismus, gegen alte und neue Rechte“. 175.000 Menschen unterstützen inzwischen die  Petition „8. Mai zum Feiertag! Was 77 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus getan werden muss“.

Seit wir politisch denken können, ist es der Schwur der Überlebenden von Buchenwald, der uns in den Ohren hallt und unser Bewusstsein maßgeblich mitbestimmt: „Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!“

Aber es herrscht erneut Krieg in Europa! Und zwar nicht zum 1. Mal seit Ende des 2. WK, wie viele suggerieren. Denn der erste europäische Krieg, an dem sich Deutschland nach 45 beteiligte, war der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen Serbien 1999, während des Kosovo-Krieges. Und heute ist Deutschland -wie der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung kürzlich feststellte – inzwischen wieder Kriegspartei, selbstredend auf der Seite der Ukraine. Ausschlaggebend dafür einer Kriegsseite zugeschrieben zu werden, sei nicht die Lieferung schwerer Waffen, sondern die Ausbildung ukrainischer Soldat*innen an diesen Geräten. Selbstverständlich verurteilen wir den russischen völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine aufs Schärfste. So wie wir jeden Krieg in den letzten Jahrzehnten verurteilten. Auch wenn wir niemals vergessen werden, dass es die Sowjetunion war, die mit 27 Mio gefallenen Soldat*Innen innerhalb der alliierten Streitkräfte für unsere Befreiung den höchsten Blutzoll gezahlt hatte.

Natürlich sollten alle Kriegsverbrecher vor dem internationalen Strafgerichtshof für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden – aber dann wirklich alle! Auch die, die für völkerrechtswidrige Interventionen und Kriegsverbrechen in Libyen, im Irak, in Afghanistan, usw. verantwortlich sind. Und ja, selbstverständlich müssen wir uns um Kriegsflüchtlinge kümmern, sie aufnehmen und gut versorgen– ganz egal, wann und woher sie kommen! Aber auch hier bitteschön nicht mit zweierlei Maß messen! Es müssen gleiche Rechte gelten für alle!

Aber was ich im Moment am entscheidensten finde: Alle Konflikte weltweit zeigen, dass es ein Irrglauben ist, dass Waffenlieferungen die Welt friedlicher machen. Sie tun es nicht weder in der Türkei,bzw. im kurdischen Teil des  Irak, in Israel/Palästina, in Afghanistan, in Syrien, im Jemen, oder in den  anderen  Dutzenden Kriegen und bewaffneten Konflikten weltweit – wir haben laut UNO Generalsekretär Antonio Guterres zurzeit ein Rekordhoch an bewaffneten Konflikten seit Ende des 2. WK. Wo ist unsere Empörung über die Gräueltaten in anderen Weltregionen? Und wo ist unsere Solidarität mit den 2 Milliarden von bewaffneten Konflikten betroffenen Menschen? Es handelt sich hierbei unvorstellbarerweise um ein Viertel der Weltbevölkerung! Wenn unsere grüne Außenministerin Annalena Baerbock oder die EU-Komissionspräsidentin Ursula von der Leyen wie auch andere jetzt davon sprechen, dass es nicht um Verhandlungen gehen kann, an denen Russland „mitbestimmt“, sondern Russland „besiegt“ werden muss bis zur entgültigen Kapitulation, dann schaudert es mir und bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen.

Das Denken in Kategorien von Siegern und Verlierern zeigt, dass der Glaube an die Kooperation aufgegeben wurde. Dialogverweigerung ist das Ende der Friedfertigkeit, sagte die Schweizer Friedensforscherin Lea Suter beim diesjährigen Ostermarsch in Bregenz.
Länder aus UN-Organen auszuschliessen, widerspricht diametral der Grundidee der UNO, mit der -nach den Erfahrungen des 2. Weltkriegs- ein Ort geschaffen werden sollte, wo Länder miteinander sprechen, auch – und gerade wenn – sie sich uneinig sind oder im schlimmsten Fall sogar im Krieg miteinander stehen. Ich erwarte von einer demokratisch gewählten Regierung, dass sie den Friedensgedanken und die Unversehrtheit von Menschenleben in den Mittelpunkt ihrer Agenda stellt. Wir brauchen kein Schwarz-Weiß-Denken, kein moralisch aufgeheiztes Kriegsgeheul, kein Heldentum und keine Feind-Rhetorik. Das sollten wir aus unserer Geschichte gelernt haben. Um Verhandlungen als ehrliche Makler und (Friedens-)Garanten voranzutreiben, braucht es die Fähigkeit zu differenzieren, anstatt durch polarisierendes Denken die Welt in Gut (das sind wir!) und Böse (das ist die andere Seite!) aufzuteilen. Im Gegenteil: Wir brauchen nicht „das Böse“ als Gegenüber, weil wir im Westen nicht „die Guten“ sind. Dazu nochmals ein Zitat von Lea Suter: „Beschäftigt man sich länger mit bewaffneten Konflikten, weiss man: Wenn der Krieg einmal da ist, gibt es keine Guten! Unsere primäre Rolle als Friedensbefürworter ist nicht die Verurteilung einer Kriegspartei, sondern die Verurteilung des Krieges, der Verurteilung aller Kriege und aller Mechanismen, die Krieg befördern.“

Wir sind der festen Überzeugung dass Frieden nur mit friedlichen Mitteln hergestellt werden kann. Es führt kein Weg daran vorbei die militärische Eskalationsspirale zurückzudrehen und zu Friedensverhandlungen am Tisch zurückzukehren. Darauf sollten alle unsere Bemühungen ausgerichtet sein. Und so bleiben wir der Losung treu:

Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg !

Und fordern gerade in dieser politisch aufgeheizten Stimmung:

  • den 8. Mai zum nationalen Feiertag zu erklären! 
  • Und ein öffentlich zugängliches Mahnmal für die, durch das Nazi-Regime in Ravensburg politisch Verfolgten aufzustellen!