Wie jedes Jahr erkläre ich für diejenigen , die heute zum 1. Mal an dieser Veranstaltung teilnehmen, warum wir die Gedenkfeierlichkeit gerade hier abhalten:
Dies hier ist für Ravensburg ein historischer Platz, im Volksmund bekannt als das „Rote Haus“. Ihr seht die rote Ziegelstein-Mauer als erhalten gebliebene Außenbefestigung des damaligen Ravensburger Gemeindegefängnisses. Hier wurden auch während des Nationalsozialismus Menschen inhaftiert, sowohl Opfer der nazistischer Rassentheorie, wie auch Gegner:innen der menschenverachtenden NS-Ideologie. Das Schicksal von ca. 35 politischen Häftlingen ist dokumentiert, ohne Angaben zur Vollständigkeit. Abzüglich der 11 Gemeinderäte, an die im Rathaus mit einer Gedenktafel erinnert wird, gibt es also über 20 vergessene Menschen, die in Ravensburg Widerstand gegen den NS-Faschismus geleistet haben.
Wir denken 78 Jahre nach Kriegsende wäre es dringend an der Zeit, sie für ihre aufrechte Haltung, ihr antifaschistisches Bewusstsein und ihren Mut zu ehren.
Und es würde die bereits in Ravensburg bestehenden Gedenkorte bereichern. Neben dem Mahnmal für die deportierten Sinti*zze an der Jodokkirche, den beiden Grauen Bussen (einer an der Weissenau, der andere auf bundesweiter Tour), den Stolpersteinen, der Gedenktafel im Rathaus,… würde ein weiteres Mahnmal für den dokumentierten politischen Widerstand gegen den Nazifaschismus die gesellschaftliche Debatte weiter anregen. Es ist inzwischen empirisch belegt, dass Orte des Erinnerns und des Gedenkens von vielen genutzt werden, als lokale Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nazi-Faschismus. Schulklassen könnten sich z.B. vorort mit der Frage beschäftigen, welche persönlichen Konsequenzen hatte es damals für Einzelne, sich den menschenverachtenden Erlassen zu widersetzen? Und was versteht man unter Zivilcourage heute? Was bedeutet es in einer Demokratie zu leben? Wo entwickeln wir heute Empathie mit Opfern? Welche Konsequenzen hat das für uns und ab welchem Punkt müssen wir uns individuell entscheiden Verantwortung zu übernehmen? Es sind viele Fragen, die in diesem Zusammenhang erörtert werden könnten.
Gerade vor dem Hintergrund der sich zuspitzenden Klimakrise, zunehmenden militärischen Kriegshandlungen und damit einhergehender Existenzvernichtung, vorallem von Menschen im globalen Süden, sind diese Fragen existentiell für die Ausgestaltung zukünftigen Überlebens der Menschheit. In Zeiten der globalen Zusammenhänge und reicht es schon lange nicht mehr nur vor der eigenen Haustüre zu kehren.
Letztes Jahr habe ich an dieser Stelle ausführlich offizielle Studien zitiert, die das gesellschaftliche Wissen über Opfer und Täter des deutschen Faschismus quer durch die heutige Gesellschaft abfragten. Die wesentlichen Punkte kurz zusammengefasst waren:
In Deutschland kann jeder 10. Befragte überhaupt keine Angaben zu Opfergruppen des NS machen! Während „nur“ jeder fünfte (knapp 20%) die Gruppe der Jüd:innen nicht kennt, kennt nicht mal jeder zweite die Gruppe der Sintizze und/oder Romnja (56%). Ungefähr ¾ der Befragten kennen nicht die Opfergruppe der Homosexuellen, der Menschen mit Behinderungen oder die psychisch Kranker. Und auch wissen 3 von 4 Deutschen nichts über den politischen Widerstand, geschweige denn über dessen verschiedene Motivationen. Obwohl die wissenschaftliche Aufarbeitung des Nazi-Faschismus allen früheren Behinderungen zum Trotz – denken wir nur an die empörten Proteste gegen die Wehrmachtsausstellung, von Vaterlandsverrätern war die Rede! – heute weit fortgeschritten ist, scheinen die Lehren aus der deutschen Geschichte im gesellschaftlichen Bewusstsein nicht tief verankert zu sein. Noch 3 Zahlen dazu:
Studienergebnisse zur Rolle der deutschen Bevölkerung im NS zeigen, dass Befragte heute denken, dass
- fast jeder 2. Deutsche damals nichts von den systematischen Morden des NS-Regimes wusste
- jeder 4. der Befragten äußert Verständnis dafür, wenn Deutsche in der NS-Zeit (Zitat)„nichts von den Verbrechen des Nazi-Regimes wissen wollten“.
- und jeder 5. der Befragten teilt die Ansicht, dass die deutsche Bevölkerung keine Mitverantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes trug. Und dass die deutsche Bevölkerung während der NS-Zeit (Zitat) „genauso sehr gelitten hat wie die Gruppen, die durch das NS-Regime verfolgt wurden“.
Es gibt verschiedene Erklärungsmuster für dieses „Bewusstseins-Defizit“. Der sicherlich schwerwiegendste Aspekt ist die Tatsache, dass eine große Mehrheit der damaligen Bevölkerung das NS-Regime bis in die totale Niederlage hinein unterstützt hatte. Der Nationalsozialismus war eben kein aufgezwungenes Regime, sondern ein Gesellschaftssystem. Und nach 1945 gab es viele bruchlose personelle Kontinuitäten in das System der neu gegründeten Bundesrepublik…….
Der Weg zur heutigen Gedenkkultur war lang und steinig; sie wurde von Minderheiten erkämpft, gegen die Macht des Verschweigens und Verdrängens und gegen den massiven Täterschutz der ersten Nachkriegsjahrzehnte.
Ein anderer Aspekt ist sicherlich die in den letzten Jahren in Deutschland gestiegene Zahl an Menschen mit Migrationshintergrund, von denen viele mit ihren eigenen persönlichen und überlieferten Geschichten und Traumatas im Handgepäck nach Deutschland gekommen sind. Angesichts der oftmals vorausgegangenen Zerstörung ihrer Heimat, spielt für sie die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und des 2. WK vor über 70 Jahren erstmal nur eine untergeordnete Rolle.
Was bedeutet das nun für uns?
Bevor wir damit beginnen die Verantwortung für die deutsche „Geschichtsvergessenheit“ anderen anzulasten, sollten wir uns selbst nochmals dezidiert mit der Geschichte und Bedeutung des NS-Faschismus auseinandersetzen. Der 2. Weltkrieg war – wie der Name schon sagt- ein globales Ereignis, das die Existenz vieler Millionen Menschen zerstörte, deren Leid bis heute kaum gesehen, geschweige denn anerkannt wurde.
Kennen wir noch aus der Schule die großen Schlachten, die militärisch geschlagen wurden, und vielleicht grob noch die durch den Krieg ausgelösten Grenzverschiebungen, so ist unser Wissen doch sehr begrenzt, was die Auswirkungen des Krieges auf die nicht -weiße Bevölkerung des globalen Südens betrifft.
Nur ein Beispiel: Als der 2. WK begann, umfasste das britische Empire ein Viertel der Welt, und Frankreichs Kolonialgebiete waren 20 Mal größer als das sog. Mutterland. Auf der britischen Seite entstammte jeder 2. Soldat aus den Kolonien.
1 Mio Afrikaner kämpften für Frankreich. Und in den USA herrschte noch ungebrochen die Rassentrennung als staatlich legitimierter Rassismus.
Aber auch nach dem Krieg, während der Zeit der von 1945 – 1949 stattfindenden Nürnberger Prozesse begehen europäische Staaten weiterhin an den Zivilbevölkerungen ihrer Kolonien Verbrechen, wie Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportation oder andere unmenschliche Handlungen, die lt. Nürnberger Statut ebenfalls Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind.
Wenn in dem Moment, in dem man angesichts der nationalsozialistischen Vernichtungsstätten eine neue Ethik beschwört, sozusagen als „Lehre aus Ausschwitz’, diese nicht universell denkt und umsetzt, dann schließt man bewußt einen großen Teil der Menschheit von diesem neuen Völkerrecht aus.
Die Kolonialmächte haben im neu entstandenen Völkerrecht eine Art „weiße Immunität“ durchsetzen können, die ihnen stillschweigend Straflosigkeit zuerkannte.
Paradoxerweise wurden trotz fortlaufender Gewaltverbrechen in den Kolonien England und Frankreich 1946 ständige Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, und waren damit mitverantwortlich für die Sicherheit aller, in dieser neu struktuierten Welt. Welch eine Doppelmoral! Welch ein Zynismus!
Und noch einen anderen Punkt möchte ich erwähnen:
Dass Deutsche schon jahrzehntelang vor dem 2.WK als Söldner für Frankreich in deren Kolonialkriegen kämpften, dürfte wohl bekannt sein. Weniger bekannt hingegen die Tatsache, dass 1945 also direkt nach Kriegsende gefangene deutsche Wehrmachtssoldaten in den Lagern sofort wieder von der Legion angeworben wurden. Von dort ging es für die deutschen Kriegsverbrecher direkt nach Indochina, Vietnam und von dort aus nach Algerien. Dort stellten Deutsche mehr als die Hälfte der Legion, und sie wurden für die schlimmsten und schmutzigsten Einsätze herangezogen, zu Vergeltungsaktionen, denen die Bevölkerung ganzer Dörfer zum Opfer fiel.
Mehr historische Verwicklung lässt sich kaum denken:
Deutsche, die den Nationalsozialismus gerade erst hinter sich gelassen hatten, verübten nun Verbrechen im Auftrag einer Kolonialmacht, die zugleich Siegermacht über Nazi-Deutschland war – und dies wiederum mithilfe der Soldaten aus den Kolonien.
Die Verweigerung einer Universalität, die sich an der Gleichheit der Menschen und dem gleichen Recht auf Unversehrtheit orientiert, zieht sich bis in unsere Tage.
An diesem menschenfeindlichen Rassismus hat auch die Shoa nichts geändert.
Das ist die Nachtseite europäischer Ethik und über die wird nicht gerne gesprochen.
Warum erwähne ich das und was bedeutet das nun für uns?
Wir begreifen es weiterhin als unsere Verantwortung über eines der dunklesten Kapitel unserer Geschichte aufzuklären. Die Erinnerung an den deutschen Faschismus und seine Menschheitsverbrechen, Völkermord und Vernichtungskrieg, muss auch 77 Jahre nach der erzwungenen Kapitulation der deutschen Wehrmacht aufrechterhalten werden. Aber es geht nicht um ein formales Abarbeiten des Gedenkens, als Schuldentlastung sozusagen, sondern um die ständige Weiterentwickung einer lebendigen Erinnerungskultur. Weil Erinnerung kein abgeschlossenes Projekt ist, sondern sich als Prozess in ständiger Veränderung befindet.
Es geht uns um ein Gedenken, das inclusiv ist, d.h. eine Hierarchie unter Opfern ablehnt, dass andere ein – und nicht ausschließt. Wir müssen die Befreiung vom NS zusammengedenken mit der Freiheit und Würde der kolonisierten Menschen. Das betrifft alle Völker weltweit. Ob in Afrika, Indonesien, im Nahen Osten, Kurdistan oder in Palästina. Aber eben auch in Europa! Was ist das für ein Gefühl, wenn wir die Nachfolgen der afrikanischen Menschen, die einst für unsere Befreiung vom Nazifaschismus kämpften und zu Tausenden gestorben sind, heute auf dem Mittelmeer ertrinken lassen, weil wir denken dass wir uns ihr Überleben nicht leisten können…
Wir sollten die Fäden der Geschichte neu und anders verweben und mit einer Politik der Solidarität verbinden.
Um nun den Bogen zurück zum Beginn meiner Rede zu spannen, also dem konstatierten mangelnden Geschichtsbewusstsein innerhalb der deutschen Gesellschaft:
dies könnte dann auch die Brücke sein, mit dem wir gemeinsam mit Menschen mit Migrationshintergrund und ihren Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung eine gemeinsame Plattform bilden, um individuelle Geschichte zu verstehen, und allgemeingültige Lehren für die Zukunft daraus zu entwickeln.
In einer Zeitenwende hin zu einer multipolaren Welt ist nun mehr denn je ein kosmopolitisches Weltverständnis gefragt, in dem die Erinnerung an das deutsche Menschheitsverbrechen einer Praxis von Teilhabe und Gemeinschaftlichkeit nicht im Wege steht, sondern sie aktiv unterstützt. Das bedeutet, dass wir immer wieder versuchen sollten die Einzigartigkeit des Holocausts mit einem klaren Bewusstsein über die Opfer ins Verhältnis zu setzten zu dem Gedanken einer Universalität, die zum Handeln motiviert.
Ein wichtiger Baustein darin ist für uns zu fordern den 8.Mai zum deutschen Feiertag zu erklären, wie es die Ausschwitz-Überlebende Esther Bejerano noch vor ihrem Tod in einer Petition an den dt. Bundestag forderte. In vielen europäischen Ländern wird der 8. Mai als Tag der Befreiung vom national-sozialistischen Joch feierlich begangen. In Deutschland erlebten vorallem die überlebenden Verfolgten und Widerstandskämpferinnen diesen Tag als Befreiung. Wir reden hier von Millionen Menschen, die befreit wurden aus Zuchthäusern und Lagern, von der Zwangsarbeit und den Todesmärschen. Trotz aller Aufarbeitung blieb seit Kriegsende die Sicht auf den 8. Mai wesentlich von der Sicht der Nazis und der Mitläuferinnen als Tag der Kapitulation und der Niederlage geprägt.
„Den 8. Mai zum gesetzlichen Feiertag zu machen, wäre ein symbolischer Perspektivenwechsel: von der Sicht der „Volksgemeinschaft“ hin zur Sicht der Befreiten, der Verfolgten, des Widerstands. Das wäre ein starkes Zeichen gegen Geschichtsrevisionismus, gegen alte und neue Rechte“
Seit wir politisch denken können, ist es der Schwur der Überlebenden von Buchenwald, der unser Bewusstsein maßgeblich mitbestimmt:
Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg !
Deshalb fordern wir gerade in dieser politisch aufgeheizten Stimmung den 8. Mai zum nationalen Feiertag zu erklären!
Und ein öffentlich zugängliches Mahnmal für die durch das Nazi-Regime in Ravensburg politisch Verfolgten aufzustellen!
Viele Anregungen aus meinem Beitrag habe ich Charlotte Wiedemann’s neuem Buch entnommen „Den Schmerz der Anderen begreifen“. Dieses Buch ist übrigens Esther Bejerano gewidmet.
Zum Schluss möcht ich sie deshalb nochmal selbst zu Wort kommen lassen:
„Seien wir behutsam.
Seien wir es gerade jetzt, da die Stimmen aus der Vergangenheit zu verwehen scheinen und die Lehren aus der Geschichte überschrieben werden mit Parolen der Härte. Erinnern bekommt nun eine neue Bedeutung. Ein Erinnern für eine Zukunft, die Zugehörigkeit in Diversität erlaubt und damit lebendige Gegenrede ist zum Wahn von Homogenität, Nationalsimus und Aussonderung. Ein Erinnern für eine Welt, in der es keine Hierarchie von Leiderfahrung mehr gibt und keinen Schmerz, der nicht zählt.Ein Erinnern also für eine neue Ethik der Beziehungen und einen Antifaschismus des 21.Jahrhunderts!
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Offener Brief an die Regierenden und alle Menschen, die aus der Geschichte lernen wollen
Erstellt am 26. Januar 2020 von Esther Bejarano, Überlebende der KZ Auschwitz und Ravensbrück zum 27. Januar 2020: Dass Auschwitz nie wieder sei – und dieses Land sich ändern muss!
Falls man dem Menschen die Möglichkeit geben will, aus der Geschichte zu lernen, wäre die erste Voraussetzung, dass er sich dieser Geschichte erinnert. Aber leider vergisst er so leicht, und oft vergisst er gerade die entscheidenden Lektionen.
(Lukas Bärfuss, Büchner-Preis-Rede 2019)
Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin
und alle, die wollen, dass Auschwitz nie wieder sei!
Wo stehen wir – dieses Land, diese Gesellschaft – 75 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee?
Plötzlich gab es keine Nazis mehr, damals, 1945 – alle waren verschwunden. Uns aber hat Auschwitz nicht verlassen. Die Gesichter der Todgeweihten, die in die Gaskammern getrieben wurden, die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Albträume in den Nächten.
Wir haben das große Schweigen nach 1945 erlebt – und wie das Unrecht – das mörderische NS-Unrecht – so akzeptiert wurde. Dann erlebten wir, wie Nazi-Verbrecher davonkommen konnten – als Richter, Lehrer, Beamte im Staatsapparat und in der Regierung Adenauer. Wir lernten schnell: die Nazis waren gar nicht weg.
Die Menschen trauerten um Verlorenes: um geliebte Menschen, um geliebte Orte. Wer aber dachte über die Ursachen dieser Verluste nach, fragte, warum Häuser, Städte, ganze Landstriche verwüstet und zerstört waren, überall in Europa? Wen machten sie verantwortlich für Hunger, Not und Tod?
Dann brach die Eiszeit herein, der Kalte Krieg, der Antikommunismus. Es war ein langer Weg vom kollektiven Beschweigen bis zum Eichmann-Prozess in Jerusalem über die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main zu den Studentenprotesten in den 1968ern hin zur Fernsehserie “Holocaust” ab 1979. Nur zögerlich entwickelte sich das Bewusstsein, die Wahrnehmung des NS-Unrechts. Aber auch die Rechten, die Alt- und Neonazis und Auschwitzleugner formierten sich.
Inzwischen wird vom Erinnern und Gedenken als einer Gedenkkultur gesprochen. Wir spüren, wie tief viele Menschen bewegt sind, manche haben sich das “Nie wieder” zur Lebensaufgabe gemacht.
Sonntagsreden, die Betroffenheit zeigen, reichen aber nicht. Diese Betroffenheit muss zum Handeln führen, es muss gefragt werde, wie es so weit hat kommen können. Es muss gestritten werden für eine andere, bessere Gesellschaft ohne Diskriminierung, Verfolgung, Antisemitismus, Antiziganismus, ohne Ausländerhass! Nicht nur an Gedenktagen!
Sie, Frau Bundeskanzlerin Merkel haben am 6. Dezember 2019 in der Gedenkstätte KZ Auschwitz-Birkenau gesagt: “Umso klarer und deutlicher müssen wir bekunden: Wir dulden keinen Antisemitismus. […] Alle Menschen müssen sich bei uns in Deutschland, in Europa, sicher und zu Hause fühlen. […] Einen Schlussstrich kann es nicht geben – und auch keine Relativierung.” Diese Aufgabe ist noch nicht erledigt! Und ich füge hinzu: Das sind wir den Millionen Opfern der faschistischen Verbrechen schuldig!
Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren. Wir wollen uns nicht gewöhnen an Meldungen über antisemitische, rassistische und menschenfeindliche Attacken in Berlin und anderswo, in Halle, wo nur stabile Türen die jüdische Gemeinde schützten, aber zwei Menschen ermordet wurden.
Was können wir tun?
Ich will, dass wir alle aufstehen, wenn Jüdinnen und Juden, wenn Roma oder Sinti, wenn Geflüchtete, wenn Menschen rassistisch beleidigt oder angegriffen werden!
Ich will, dass ein lautes “Nein” gesagt wird zu Kriegen, zum Waffenhandel. Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor.
Ich will, dass wir gegen die Ausbeutung der Menschen und unseres Planeten kämpfen, Hilfesu-chende solidarisch unterstützen und Geflüchtete aus Seenot retten. Eine Gesellschaft muss sich messen lassen an ihrem Umgang mit den Schwächsten.
Ich fordere entschlossenes Handeln gegen das Treiben der Neonazis, denn trotz Grundgesetz und alledem konnten Abgeordnete einer neurechten Partei vom NS als “Vogelschiss in deutscher Geschichte” und vom Holocaust-Gedenkort in Berlin als “Denkmal der Schande” sprechen, konnte der NSU ein Jahrzehnt lang ungestört morden und die Neonazi-Gruppe “Combat 18” frei agieren.
Ich fordere, dass die Diffamierung von Menschen und Organisationen aufhört, die entschlossen gegen rechts handeln. Was ist gemeinnütziger als Antifaschismus? Es ist auch unerträglich, wenn ein paar Antifa-Aufkleber in Schulen Anlass für Denunziationen über Petzportale von neurechten Parteien sind. Niemand sollte für antifaschistisches Handeln, für gemeinsame Aktionen gegen den Hass, gegen alte und neue Nazis diskreditiert und verfolgt werden!
Ich fordere: Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes. Wie viele andere aus den Konzentrationslagern wurde auch ich auf den Todesmarsch getrieben. Erst Anfang Mai wurden wir von amerikanischen und russischen Soldaten befreit. Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.
Und dann können wir, dann kann ein Bundespräsident vielleicht irgendwann sagen: Wir haben aus der Geschichte gelernt. Die Deutschen haben die entscheidende Lektion gelernt.
Mit freundlichen Grüßen
Esther Bejarano
(Vorsitzende)
Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V.