Michaela Matschinski
Trotz des Krieges Russlands gegen die Ukraine reden wir heute von Afghanistan. Und ich möchte versuchen zu erklären, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Eines steht fest: weder das eine, noch das andere, ist eine Naturkatastrophe und wäre unvermeidbar gewesen – nein, es ist eine zahrzehntelange falsche Politik, die dieses Desaster zu verantworten hat!
Beginnen wir mit den Auswirkungen des längsten Nato-Einsatzes seit Bestehen der sog. Verteidigungsbündisses: ein zwanzigjähriger Krieg, in dem 160.000 Zivilisten durch Militäreinsätze oder durch Anschläge ihr Leben verloren, mehr als 3.500 Soldatinnen und Soldaten starben, über 20.000 verwundet wurden und ein Heer von vernachlässigten und traumatisierten Veteranen hinterlassen hat. Der chaotische Abzug der Soldat*innen der Nato, allen voran der USA, Deutschlands und anderer „williger“ Staaten, hinterlässt eines der ärmsten und gefährlichsten Länder der Welt. Wie die in Genf ansässige Hilfsorganisation Care erst kürzlich mitteilte, haben Millionen von Menschen in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban ihre Arbeit verloren. Zudem sind mehr als die Hälfte der Bevölkerung von akutem Hunger betroffen, da sich die Nahrungsmittelpreise in den vergangenen sechs Monaten verdoppelt haben. Bereits im vergangenen November hatte die Welternährungsorganisation FAO der Vereinten Nationen vor einer Nahrungsmittelknappheit in Afghanistan gewarnt. Zu dem Zeitpunkt hieß es, in dem Land mit seinen 39 Millionen Einwohnern seien infolge von Dürre, einer schweren Wirtschaftskrise sowie dem Zusammenbruch bäuerlicher Betriebe mindestens 18,8 Millionen Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen. Das bedeutet jede zweite Einwohner*in! Nach UN-Angaben müssen in diesem Jahr knapp 5 (4,7) Millionen Menschen in Afghanistan an schwerer Unterernährung leiden, davon knapp 4 (3,9) Millionen Kinder. 131.000 Kindern drohe ohne zusätzliche Hilfe der Hungertod. Nach dem größten humanitären Spendenaufruf ihrer Geschichte brauchen die Vereinten Nationen zusätzliche 3,6 Milliarden US-Dollar (3,2 Milliarden Euro) für das Krisenland Afghanistan. Insgesamt steige der Bedarf 2022 damit auf umgerechnet knapp 7,1 Milliarden Euro. Dieses Geld werde für die Grundversorgung der Afghanen, unter anderem in den Bereichen Bildung und Gesundheit gebraucht, damit sich die desaströse humanitäre Lage nicht verschlechtere und die Wirtschaft stabilisiere. Und was ist die Antwort derer, die verantwortlich sind für diese humanitäre Katastrophe? Nach der Machtübernahme der islamistischen Taliban im vergangenen August wurden die afghanischen Reserven von den Vereinigten Staaten schlichtweg eingefroren. Dies führte bei der bereits sehr angeschlagenen Wirtschaft Afghanistans zum Kollaps und ist einer der Hauptgründe für die derzeitige Krise und humanitäre Katastrophe. US-Präsident Joseph Biden unterzeichnete also eine Verfügung, wonach 3,5 Milliarden US-Dollar aus dem eingefrorenen Vermögen zur Entschädigung der Familien der Opfer der Anschläge vom 11. September 2001 abgezweigt werden sollen … Was für eine arrogante Ohrfeige in neo-kolonialistischer Manier für die afghanische notleidende Bevölkerung! Und nicht zu vergessen: der zweitlängste Kriegseinsatz der Bundeswehr kostete den deutschen Steuerzahler insgesamt nahezu 20 Milliarden Euro !
Angesichts dieser Tatsachen müsste eine kritische und ehrliche Bilanzierung im Bundestag über diesen längsten und teuersten Kriegseinsatz der Bundesgeschichte stattfinden. Es müsste geklärt werden, wer die Verantwortung trägt für den Einsatz und das umfassende Versagen dieses militärischen Abenteuers. Und es müssten Konsequenzen daraus gezogen werden. Zum einen für die unzähligen Opfer in und ausserhalb Afghanistans, den Familienangehörigen ums Leben gekommener Afghanen, den Verletzten, den Vertriebenen und Geflüchteten…. Aber vorallem auch als zukünftige Lehre für all diejenigen Kräfte, die der Überzeugung sind, dass mit militärischen Mitteln politische Konflikte gelöst werden können. Aber nein, es wurde keinerlei Lehre aus dem Afghanistan-Debakel gezogen. Das zeigte sich schon an dem am 13. Oktober vor dem Reichstagsgebäude in Berlin veranstalteten zentralen Abschlussappell der Bundeswehr zur sog. „Würdigung“ des zwei Jahrzehnte währenden Kriegseinsatzes in Afghanistan. Dieser »Große Zapfenstreich« hat mehr als eine halbe Million Euro verschlungen, um die 630.000 Euro. Es geht nicht um die Summe! Es geht vielmehr um den blanken Zynismus dieses militärischen Zeremoniells, angesichts aller gebrochenen Versprechen bezüglich einer vorhergesagten demokratischen Entwicklung in einem wirtschaftlich prosperierenden Afghanistans.
Aber das interessiert niemand mehr – der Afghanistan-Einsatz wird längst nicht mehr politisch diskutiert. Die Deutsche Gesellschaft für Politik, die neben der SWP (Stiftung Wissenschaft und Politik) der einflussreichste außenpolitische thinktank der Bundesregierung darstellt, hatte im Sept 21 eine Studie vorgelegt unter der Überschrift: „Smarte Souveränität. Wie die neue Bundesregierung, Deutschlands und Europas Handlungsfähigkeit stärken und internationale Gestaltungskraft zurückgewinnen kann.“ In der 104 Seiten langen Abhandlung kommt Afghanistan nur in 2 Sätzen vor – und zwar nur hinsichtlich dessen, dass Absprachen zwischen den verschiedenen Gremien (Minister / Botschaften / Geheimdienste / Krisenstäben…) deutlich verbessert und effizienter gestaltet werden müssten. Keine kritischen Nachfragen, keine Empfehlung der Aufarbeitung dieses sinnlosen 20-jährigen Bundeswehreinsatzes. Und auch kein Wort dazu, dass die NATO gerade den längsten Krieg in ihrer Geschichte verloren hat. Inzwischen wird geschätzt dass die Kriege gegen den Terror seit 9/11 mehr als 8 Billionen US-Dollar verschlungen hat. Was hätte man mit diesem Geld alles sinnvolles machen können, gegen den Hunger und die ungerechte Verteilung des Reichtums zwischen dem globalen Norden und globalen Süden, gegen den Klimawandel und für bessere Bildung. Gegen eine Weltordnung, in der 1 % der Weltbevölkerung über die Hälfte des weltweiten Vermögens verfügt….
Aber es geht nicht um das Wohlergehen der Menschheit und des Planeten, sondern um den Wettkampf um Ressourcen und Handelswege, sowie die militärische Absicherung der eigenen Vormachtsstellung. Und so wird weiter aufgerüstet und gezündelt, um sich in neuen miltärischen Abenteuern geopolitisch und wirtschaftliche Einflusszonen zu sichern. Die Krisenherde dieser Welt sind vielfältig, die zu lösenden Problem scheinbar unendlich. Aber statt bestehende Konflikte kooperativ zu lösen, werden zunehmende Kriege, Klimakatastrophen und Millionen Flüchtende in Kauf genommen. Die Zahl der Menschen, die sich auf die Flucht begeben, wird weiter steigen, solange es politisch und wirtschaftlich kein grundsätzliches Umdenken gibt. Dass die wirtschafts-politschen Eliten des Westens dazu nicht bereit sind, zeigt sich allein daran wieviel Geld in die Grenzagentur Frontex gesteckt wird, um die Außengrenzen der EU gegen Migrant*innen militärisch abzusichern. Nachdem Frontex als europäische Grenzsicherungspolizei für die Außengrenzen des Schengener Raumes 2004 gegründet wurde, wurden deren Befugnisse Schritt für Schritt in Richtung eines transantionalen Geheimdienstes ausgeweitet. Für Migrant*innen auf der Flucht eine lebensgefährliche Katastrophe, da es nicht die Aufgabe der Agentur ist Menschenleben zu retten, sondern sog. „illegale“ Einreisen zu verhindern. 2019 erfolgte dann der erste Frontex-Einsatz in einem Drittland, erst in Albanien, gefolgt von Montenegro im Jahr 2020 und Serbien 2021. Nun soll Frontex im Senegal ihren ersten Einsatz auf dem afrikanischen Kontinent beginnen. Auf einer Pressekonferenz in Dakar versprach die europäische Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, uniformierte Grenztruppen, Schiffe und Drohnen, die zusammen mit anderer Überwachungstechnik zur »Schleuserbekämpfung« eingesetzt werden könnten. Mit dabei war Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die in Dakar die mit 150 Milliarden Euro ausgestattete EU-Entwicklungsinitiative »Global Gateway« vorstellte, mit dem man sich China entgegenstellen will. Die EU-Kommission will bis zum Sommer ein Statusabkommen mit Senegal abschließen, in dem Bestimmungen zum Einsatz von Waffen und anderen Zwangsmitteln geregelt, und europäischen Beamten Immunität vor straf- und zivilrechtlicher Verfolgung im Einsatzland zugesichert wird. Grundlage ist ein »Musterstatusabkommen«, das die Kommission nach mehreren Einsätzen auf dem Westbalkan erarbeitet hat. Nein, die Vertreter transatlantischer Netzwerke setzen nicht auf Deeskalation und erarbeiten keine Vorschläge zur politischen und militärischen Entspannung. Sie streben nicht nach Frieden und Gerechtigkeit auf globaler Ebene.
Auch wenn wir die russische Kriegsoffensive aufs Schärfste verurteilen, so kommt man nicht umhin die Frage zu stellen, was alles dazu beigetragen hat, dass die Situation eskaliert ist. Personalisierte Schuldzuweisungen an die vom Westen ausgerufenen Tyrannen wie z.B. Putin, Assad, Gaddafi…. (und wie sie alle hießen)…. helfen nicht weiter. Es wäre auch falsch solche Positionen in ihrer permanenten öffentlichkeitswirksamen Wiederholung nur als „naiv“ zubezeichnen. Im Gegenteil, sie sind Teil der psychologischen Kriegsführung. Wir lehnen dieses vereinfachte Schwarz-Weiß -Denken ab. Jeder Konflikt hat 2 Seiten. Kritisiert man die NATO-Ost-Erweiterung seit 1990, ist man nicht automatisch ein Putin-Versteher oder gar gleich sein Freund. Die Voraussetzung für Frieden und Sicherheit ist immer, sich in die Lage des Gegenübers hineinzuversetzen und den historischen Kontext mitzubedenken. Deshalb gibt es in unseren Augen keine Alternative zu einem friedlichen Austausch auf Augenhöhe und einer verlässlichen Kooperation auf internationaler Ebene. Die sog. „westlichen Werte“ haben sich nicht als„fortschrittsfördernd“ erwiesen, ganz im Gegenteil: wieviel Kriege wurden in ihrem Namen geführt?! Das westliche Narrativ ist eben nur eines neben vielen anderen. Das zu akzeptieren lernen, ist eine der wesentlichsten Aufgaben.
Lasst uns alles dafür tun, diese zerstörerische Systemkonkurrenz zukünftig zu überwinden, damit Kriege vermieden werden können. Das neoliberale Mantra der freien Märkte muss dahingehend überwunden werden, dass wir beginnen weltweit solidarisch zu wirtschaften und politische Verantwortung gemeinsam zu übernehmen.
Krieg ist niemals eine Lösung!